Montserrat/Karibik: Fotoreportage von Soca M., erschienen im Tagesspiegel Berlin

"Erst bebte die Erde, dann ein ohrenbetäubendes Donnern. Wir rannten alle aus den Häusern." Arthur Meadan, 55, haben sich diese Bilder für immer ins Gehirn gebrannt. Als ob das Unfassbare erst gestern geschähen wäre. Hauptstadt Plymouth:  hektische Evakuierung
Ein heißer Aschepilz schoss aus dem Soufrière Hills Volcano. Wuchs explosionsartig. Der Fahrschullehrer rettete sich in seinen alten Chevi, wollte weg. Nur noch weg. Wie Tausende andere Bewohner der pastellfarbenen Inselhauptstadt. "Minuten später war der Himmel schwarz, Plymouth für 15 Minuten in Finsternis getaucht." Im Nu waren die Straßen verstopft. Männer, Frauen und Kinder rannten panisch durch die Dunkelheit. Wie durch ein Wunder kam an diesem 21. August 1995 niemand ums Leben.
Seit diesem Tag ist auf Montserrat fast nichts mehr so, wie es einmal war. Etliche Explosionen sollten folgen. Nach drei Evakuierungen ist Plymouth heute eine Geisterstadt, ganze Straßenzüge unter meterhoher Asche begraben. Die halbe Winzlingsinsel evakuiert, absolutes Sperrgebiet.
Bleibt ein tropisches Fleckchen von sechs mal acht Kilometern im sicheren Norden, geschützt von längst erloschenen Vulkanen. Ein Rest Paradies auf einer fast vergessenen Insel. Eine grüne Perle im weiten türkisfarbenen Meer. Vielleicht die schönste der gesamten Karibik.
Geschlossen: Blackburne AirportTrotzdem landet seit drei Jahren kein Flugzeug mehr. Denn auch der "Blackburne Airport" liegt in Schutt und Asche. Der Name - eine Ironie des Schicksals? Am 21. September 97 kollabierte die Nordostwand des Soufrière. Erstmals erreichte glühende Lava das offene Meer, fliegende Gesteinsbrocken zertrümmerten die Landebahn. Doch es war abermals die 800 Grad heiße Asche, die eine Feuerwalze entfachte, um danach alles unter sich zu begraben. Der glühende mikroskopisch feine Staub verformte selbst Glas. Deformierte Carib-Bierflaschen sind heute ein begehrtes Souvenir.
Zwar hat sich der Vulkan seit zwei Jahren beruhigt und bläst nur noch konstant eine dünne Aschesäule aus. Entwarnung können die Seismologen des "Montserrat Volcano Observatory" jedoch nicht geben: "Wir wissen nicht, was im Berg los ist, können nur messen, ob gerade etwas außen geschieht." Glenn Thompson, 33, zuckt verlegen mit den Schultern. Drei Monate jobbt der Wissenschaftler in der englischen Kronkolonie. Für ihn eine willkommene Abwechslung zum verregneten Nottingham. "Dann reicht's aber auch."
Um neun Uhr - abends - macht selbst der sogenannte "Nightclub" an der Rendezvous Bay dicht. Wer sollte sich auch in dieser Strandbar amüsieren? Wenn die Locals einen draufmachen wollen, besuchen sie Freunde oder Verwandte in Antigua. Ansonsten gehen die Leute früh zu Bett.
Versteckte Badebuchten: Lime Kiln Bay
Caribben Bay Watch Annalita Touristen kommen nicht wegen Hotelentertainment und zyklischer Animationspenetration. Die betuchten Individualurlauber suchen Begegnungen mit der Natur. An menschenleeren kleinen Buchten. Mit braunen und schwarzen feinkörnigen Lavastränden, die so gar keinem Postkartenklischee entsprechen wollen. Im dampfenden Regenwald mit seinen Farben, Gerüchen und Geräuschen. Auf dem Rücken schlafender Vulkane, quer durch einen faszinierenden Nebelwald.
Andere kommen nur wegen dem Einen, dem Einzigen: dem Soufrière. Nackt rauchend überthront er die Insel, magisch, unerreichbar, in seiner Schönheit grausam.
Montserrat war schon immer ein karibischer Geheimtipp. Sowohl zu Zeiten "vor dem Vulkan", als erst recht jetzt, in der neuen Zeitrechnung "nach dem Vulkan".
Viele Künstler haben ein feines Gespür für die schönsten Fleckchen Karibik. Musiker der alten Garde faulenzten und arbeiteten regelmäßig auf Montserrat. Paul McCartney, Mick Jagger, Eric Clapton, David Bowie, Stevie Wonder, Phil Collins... In den legendären "Air Studios" des Ex-Beatles-Managers George Martin produzierten sie reihenweise Gold und Platin. Musizierten mit Arrow, dem berühmtesten Sohn des kleinen Eilandes, der mit seinem Song "Hot, Hot, Hot" 1975 eine ganze Musikrichtung populär machte - den Soca, die Partymusik der Kleinen Antillen. Abends konnten die Stars ohne Bodyguards mit Locals im Rumshop zechen, über Gott und die Welt reden und singen. Das funktioniert auch noch heute hin und wieder.
Die in die Jahre gekommenen Rock'n'roller landen heute lieber etwas südlicher, auf der Privatinsel Mustique, die zu den Windward Islands, den "Inseln unter dem Wind", gehört. Machen die Leeward-Insel Montserrat nur noch gelegentlich unsicher.
Denn dies tat 1995 bereits "Hugo". Und zwar gründlich, mit einer bis dahin nicht gekannten Gewalt. Der Jahrhunderthurricane wütete vier endlos lange Stunden im Paradies. Machte abermals einen Namen zum Programm, zerlegte die "Air Studios" in seine einzelnen Bauelemente und wirbelte sie wie Streichhölzer durch die Luft.
Hier kennt jeder jeden. Auf der Straße sprechen die Locals ganz selbstverständlich ihre Inselbesucher an. Sofort entsteht ein Small Talk. Der Pfarrer kennt seine Schäflein noch alle beim Namen. Sieht er Fremde, wird er seinen Gospelchor anpreisen, um danach herzlich eine Einladung zur Sunday School auszusprechen. Oder auf einen Fruitpunsch. Andere bevorzugen Rum. Ohne Hintergedanken, ohne Anmache, ohne Abzocke. Das ist selten geworden in der Karibik. Um so bemerkenswerter auf Montserrat, haben doch Tausende ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Oder es liegt unversehrt im Sperrgebiet. So nah und doch so unerreichbar fern. Vielen bleibt nur Glaube und Hoffnung.
Sufriere Hills Volcano

Clocktower Plymouth/Montserrat

Beten ist manchmal das Einzige, was auch Arthur Meadan in schweren Stunden einfällt. Beten, dass der Soufrière endlich wieder Ruhe findet. Und er zurück in sein Haus darf, so wie früher leben kann. Beten, dass der mystische Berg nicht wieder Feuer spuckt. Beten, dass er vor drei Jahren genug für seine Sünden gebüßt hat. Weil er die Frauen über alles liebt, weil er sechs uneheliche Kinder mit sechs verschiedenen Müttern in die kleine Inselwelt gesetzt hat, weil er sich gerne Mr. Womenyser nennt der jede Fahrschülerin anbaggert. Weil er die Hölle viel spannender als den Himmel findet und manchmal nicht weiß, wie er das alles mit seinem christlichen Idealen unter einen Hut bringen soll.
Der einfache Mann glaubt an höhere Gerechtigkeit, die ihm am 25. Juni 1997 wiederfahren sei. Dieser traurige Tag ist in die jüngste Geschichte von Montserrat eingegangen. Ein gewaltiger Lavastrom begrub acht Dörfer unter sich, Hunderttausende Tonnen Asche sorgten für ein flammendes Inferno.
Arthur zeigt seine vernarbten Beine. Diesmal war der glühende Pilz schneller als er. Panisch versuchte der Mann, sein Gesicht mit nassen Handtüchern zu schützen. Die Hitze war unvorstellbar, versenkte selbst seine Wimpern und Augenbrauen, verbrannte großflächig die Haut. Er hatte noch Glück im Unglück. 19 andere nicht.
Mit den Hurricanes haben die Einheimischen zu leben gelernt - mit dem rauchenden Berg nicht. Von den einst 11 000 Einwohnern feierten über 6000 das Millennium im Ausland. Wollen nicht mehr nach Montserrat. Wie viele Touristen, die verunsichert sind. Schlecht für die Insulaner, gut für die wenigen Besucher. Die Wahrscheinlichkeit, einem anderen Urlauber über den Weg zu laufen, ist verschwindend gering.

Montserrat: Die Todeszone im Norden

Ganz zaghaft entwickelt sich jetzt der Fremdenverkehr jetzt wieder. Im Frühjahr eröffnete ein kleines Apartmenthotel. Konkurrenzlos, von den drei Gästehäusern und privat vermieteten Strandvillen abgesehen. Auf dem Eiland geht alles "slowly, slowly" - ganz langsam. Selbst für karibische Verhältnisse. Beeindruckend. Und nach kurzer Zeit sogar ansteckend. Erholung garantiert.

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